29.11.2011
Dr. Ruth Pfau schickte uns diesen Brief.
Liebe Freunde in Deutschland,
wir sind zurück in Karachi. Es war nachts, als wir ankamen. Unser Fahrer Sham hatte 4 Stunden am Flughafen warten müssen. „Die Kinder sind alle gesund?“ erkundigen wir uns (nach der Frau fragt man nicht in Pakistan). Und die Lage in Karachi? „Viel besser“ sagt Sham. „Sie haben die Grenzwacht eingesetzt, die kennen keine ethnischen und politischen Unterschiede. Wer schießt, wird verhaftet; seither haben wir Ruhe.“ Wir atmen auf, mit der Bevölkerung von Karachi. Seit 2 Wochen ist keiner aus dem Hinterhalt erschossen worden. Hätten sie das nicht eher tun können – ehe wir über 1.000 Menschen auf den Straßen Karachis verloren haben?
Womit sind wir zurzeit beschäftigt? In Sindh hat der sintflutartige Monsun im Sommer wieder alle Deiche gesprengt. Paulus, unser Lepra-Assistent von Badin, ist der erste, der anruft. Seither laden wir wieder Lastwagen voll mit Zelten, Decken, Lebensmitteln, Medikamenten. – Wem kann man sagen, dass die Regierung keine Vorsorge getroffen hat? Aber die Häuser, die wir das letzte Mal gebaut haben, haben der Flut standgehalten – sie mögen überschwemmt sein, die Familien haben sowieso kein Mobiliar, das man auf den Flachdächern in Sicherheit bringt. Aber eingestürzt oder weggerissen sind die Häuser nicht! Das Vieh haben sie auf den Dämmen in Sicherheit gebracht.Ob das jetzt ein jährlicher Einsatz wird? Felder urbar machen – mit Saatgut aushelfen – zwei Ernten einbringen – dann erneut die Flut? Das Bewässerungssystem der Provinz in Ordnung bringen, das ist eine Aufgabe, der eine Hilfsorganisation wie die unsere nicht gewachsen ist. Aber die Menschen wissen wenigstens: Da ist eine Gruppe, die uns nicht vergisst und uns aushilft.
Für unsere Kernaufgaben erarbeiten wir wenigstens wirkliche Lösungen. Unsere medizinischen Dienste für vernachlässigte Bevölkerungsgruppen – der erste Schritt auf dem Wege, sie zur Eigenverantwortung zu führen – machen langsam, sehr langsam aber doch unübersehbar Fortschritte. An Impftagen fallen wir buchstäblich über die Kinder und Mütter, die sich in unseren Gesundheitszentren drängen. Kleinkinder werden regelmäßig gewogen und Mütter zum Stillen ermutigt. Nur eine vernünftige Familienplanung trifft auf fast unüberwindliche Vorurteile. Aber wir können wenigstens viele Mütter in unsere Schwangerschaftsvorsorge aufnehmen und ihre chronische Blutarmut noch vor der Entbindung behandeln.
Behinderten-Fürsorge – der neue Schwerpunkt: Fast erinnert es uns an die frühen Tage der Leprabekämpfung, das Stigma, das mit der Behinderung verbunden ist. Kinder, die in dunklen Nebenzimmern vor jedem verborgen werden, selbst vor uns verheimlicht, ausgehungerte und vernachlässigte Kinder. Erst wenn sie völlig unansehnlich sind, wird „Bhut“, der böse Geist, sie vielleicht verlassen, weil selbst er in einem solchen Kind nicht mehr wohnen mag. Es braucht lange und geduldige Aufklärung, dass die Behinderung nicht die Einwohnung eines bösen Geistes ist, sondern durch die Heirat von Cousin und Cousine verursacht wird, der häufigste Heiratsform in Pakistan und der Grund, dass wir so viele Erbkrankheiten haben.
Aber es gibt auch Fortschritte. Ranjila ist eine selbst ausgeheilte behinderte Leprapatientin, die erfolgreich ihre Ausbildung als Lehrerin abgeschlossen hat: In ihrer kleinen Schule im Flüchtlingslager sind jetzt unter 60 Schülern und Schülerinnen auch 6 behinderte Kinder aufgenommen. Amin hat einen kleinen Laden, in dem er Süßigkeiten verkauft – seine strahlenden Augen, wenn wir seine Arbeit bewundern! Und abends klimpert das Kleingeld in der Kasse, das er, Amin, selbst verdient hat!
Salim hat die Mittlere Reife mit Auszeichnung bestanden, obwohl er eine Begleitung brauchte, die ihn im Rollstuhl immer wieder aufrichtete, weil er durch eine Kleinhirn-Erkrankung die Koordination seiner Muskeln verloren hat. Der Junge ist so intelligent – ich weiß nicht, wo er sein Englisch gelernt hat, einfach so, wir haben ihn nie in der Sprache unterrichtet. Sein Traum, der den Jungen am Leben erhält: dass er eines Tages „Chips“ eingepflanzt bekäme, die die verlorene Hirnfunktion ersetzen könnten. 5 bis 10 Jahre wird es noch dauern, hat man mir in Deutschland erklärt, ehe diese Entwicklung in der Behandlung von Kranken eingesetzt werden könnte. Manchmal sitzen wir zusammen und „bauen Chips“ – Wolkenschlösser.
Es ist so viel zu tun, SO VIEL ZU TUN. Alles mit einer „Handvoll“ von Mitarbeitern.
Was sich sonst getan hat? Nachdem die Lepra im Griff ist, haben wir uns in den Kopf gesetzt, die geheilten Patienten auch zu rehabilitieren. Und Schulbildung: Die letzte Schule, die jetzt bald in Betrieb genommen werden kann und 100 Kinder unterrichten wird, ist ein lang erwarteter Erfolg. Ein Stamm, aus dem sich die Extremisten rekrutieren. Nein, in die Schule würden sie ihre Kinder nicht schicken. Die Jungen müssten Geld verdienen und nicht ihre Zeit mit solch unnötigen Dingen wie Lernen verbringen. Und die Mädchen brauchten sowieso keine „Bildung“. Wer würde denn solche studierten Frauen noch heiraten wollen? Was war geschehen, dass sie schließlich selbst zu uns kamen und eine Schule wollten und den Bauplatz zur Verfügung stellten? Die Kinder selbst haben wohl die wichtigste Rolle gespielt. Und sie konnten sehen, dass sich die Nachbarstämme durch die Schulen entwickelten; konnten hören von Freunden, wie hilfreich es sei, wenn Söhne lesen könnten. Dann könnte sie kein Ladenbesitzer mehr betrügen, und die Regierung könnte sie nicht mehr schikanieren.
Wir sind gerade dabei zu zählen, wie viele Schulen wir schon eröffnet haben und wie viele Kinder wenigstens Volksschulbildung erhalten…
Ihre Ruth Pfau
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Dr. Ruth Pfau († 2017), Lepraärztin und Ordensfrau, kannte Pakistan wie kaum ein anderer Europäer.
Sie hatte dort seit mehr als fünfzig Jahren nach Kranken gesucht und erfolgreich Hilfe geleistet.
Dokumentationen berichten über ihr Leben und Wirken - unsere DVD-Angebote.
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