08.07.2012
Ein Beitrag über Dr. Ruth Pfau aus dem Vivat!-Kundenmagazin „Glaube verbindet“
Im erfolgreichen Kampf gegen die Lepra in Pakistan hat sich die Ärztin und Ordensfrau Ruth Pfau weltweit einen Namen gemacht.
Mit 82 Jahren engagiert sie sich noch immer in dem landesweit agierenden Leprazentrum, das sie Anfang der 60er Jahre selbst gegründet hatte. Warum eigentlich hat sie ihr abenteuerliches Leben nicht längst gegen ein beschaulicheres Rentnerdasein in der deutschen Heimat eingetauscht?
Ist es Pflichtbewusstsein? Das Bedürfnis, als Ärztin beharrlich dort zu helfen, wo die Not der Menschen sie anspringt? Oder Abenteuerlust? Ruth Pfau hat nie verhehlt, wie gerne sie der aufkeimenden bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder-Gesellschaft entkommen ist. Mit einem verschmitzten Lächeln in den Augen erzählt sie, wie sie einst Geländefahrzeuge über halsbrecherische Pisten zu Patienten in unwegsamen Bergregionen gesteuert hat. Pflichtbewusstsein und Abenteuerlust geben ihr gleichermaßen Antrieb, doch zugleich ist ihr die Begrenztheit dieser Kraftquellen bewusst. »Die Abenteuerlust wird euch weit tragen, aber nicht durchtragen«, sagt sie ihrem Team, bunt zusammengewürfelt aus Muslimen, Hindus und Christen. Die noch größere Kraft ihres Lebens ist die Liebe, wie sie in ihren Büchern preisgibt. Liebe zu dem Land Pakistan „mit all seinen Schönheiten und all seinen Schwächen, mit allen Ungereimtheiten und allen Überraschungen“ und zu seinen Menschen, „und das trotz ihrer Gewaltbereitschaft, ihrer Selbstgefälligkeit, ihrer Neigung, die Schuld anderen zuzuschieben und sich selbst freizusprechen.“
Die Liebe, auf die es Ruth Pfau ankommt, über die sie aber nur selten große Worte verliert, schließt Leidensfähigkeit mit ein. Das mag mit einer prägenden Lebenserfahrung zu tun haben, die sie als 17-Jährige machte, kurz nach dem Krieg. Ihre Heimatstadt Leipzig stand unter russischer Besatzung, es mangelte an Ärzten und Medikamenten, zudem herrschte Ausgangssperre. Die junge Oberschülerin musste mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder an einer unbehandelten Lungenentzündung starb. Damals traf sie den Entschluss, Medizin zu studieren. Und damals begann sie auch, nach dem Wesentlichen des Lebens zu fragen. „Was das ist, kann ich noch immer nur ahnen“, sagt sie und ist doch zugleich überzeugt, ihm in der Liebe am nächsten zu kommen. Auch wenn sie ihren muslimischen und hinduistischen Mitarbeitern und Patienten mit der gleichen Wertschätzung begegnet wie den christlichen: Die Ordensfrau der Töchter vom Herzen Mariä sieht das Geheimnis ihrer Liebe in ihrem christlichen Glauben, zu dem sie erst als Studentin gefunden hat. „Die bedingungslose, überbordende Liebe, die man nicht verstehen kann, finde ich nur im Christentum“, schreibt sie in ihrem Buch „Das Herz hat seine Gründe“.
Diese Liebe ist es, die das Miteinander in ihrem Team prägen soll, und nicht nur die christlichen Mitarbeiter haben sie als Erfolgsgeheimnis erkannt. „Ich konnte nachts nicht schlafen, wenn ich wusste, dass ein Patient keine Medikamente hat“, hat ein Leprahelfer einmal gesagt, und ein anderer erklärt den langjährigen Erfolg des Zentrums so: „Wir haben noch nie eine Kalaschnikow getragen, wir hatten immer den Mut, schutzlos und verletzlich zu sein – das hat uns unbesiegbar gemacht.“ Tabletten austeilen und körperliche Symptome ausheilen war dem Lepra-Team im Umgang mit den Patienten nie genug. Es ging ihnen stets auch darum, den Ausgegrenzten ihre Würde und einen Platz inmitten der Gesellschaft zurückzugeben. Und wenn dies nur unvollkommen gelingen konnte, wollten sie ihnen wenigstens zeigen, dass sie an ihrer Seite sind, dass sie einfach da sind.
Dass Dr. Pfaus Team bis heute um keinen Preis auf die Mitarbeit der alt gewordenen Gründerin verzichten mag, liegt nicht nur daran, dass die Rentnergeneration in Pakistan noch besser gesellschaftlich integriert wird als in Europa. Es liegt auch an der herzlichen Zuneigung, die sie freigiebig ausstrahlt und die ihr vielfach erwidert wird. „Wenn Sie an einer Konferenz teilnehmen, ist die Atmosphäre einfach eine andere“, hat etwa ein Mitarbeiter kürzlich gesagt. „Sie brauchen überhaupt nichts zu sagen. Es reicht, wenn Sie dabei sind.“
Aus Liebe zu den Leidenden durchdrang sie mit Charme, Humor und einer großen Portion Unerschrockenheit manche zunächst unüberwindbar scheinende gesellschaftliche und soziale Grenze. Bei ihrem ersten Besuch in der Leipziger Ruth-Pfau-Schule, einem kommunalen Berufsschulzentrum für Gesundheits- und Sozialberufe, erzählte sie den jungen Frauen und Männern vor kurzem von einer 13-jährigen Lepra-Patientin, die sie einst aus einer Berghöhle befreite. Die Dorfbevölkerung hatte zwei Jahre zuvor entschieden, das Mädchen dort einzumauern, um die übrigen Bewohner vor der Ansteckung zu schützen. Mittlerweile ist sie erwachsen, verheiratet und Mutter von vier Kindern. Die Krankheit hat sie ohne augenfällige Folgen längst überwunden. Erfolgserlebnisse wie diese beflügeln Ruth Pfau. Dass die Lepra seit Mitte der 90er Jahre in Pakistan unter Kontrolle ist, geht nicht zuletzt auf ihre Rechnung. Auch bei der Behandlung von Blindheit und Tuberkulose und in der Flüchtlingshilfe hat sie mit ihrem Team Beachtliches geleistet. Schon 1980 hat dies auch die pakistanische Regierung anerkannt, als sie die deutsche Ärztin zur nationalen Beraterin im Rang einer Staatssekretärin für das Lepra- und Tuberkulose-Kontrollprogramm ernannte. International wurde ihr Tun unter anderem durch die Verleihung des Ramon Magsaysay-Awards gewürdigt, der oft als asiatische Entsprechung des Friedensnobelpreises bezeichnet wird, durch das Bundesverdienstkreuz und den Albert-Schweitzer-Preis.
Nur zu gut kennt die Medizinerin aber auch das Gefühl, von einer Übermacht von Schwierigkeiten überrollt zu werden. Bis heute ist das Land von einer Gleichberechtigung der Frauen noch weit entfernt. Nach wie vor leiden weite Landstriche unter der Herrschaft des Blutrache-Systems, das Angst und Schrecken verbreitet und viele Menschenleben fordert. Ereignisse wie der Irakkrieg oder die verheerenden Überschwemmungen von 2010 scheinen die Erfolge ihrer Arbeit zunichte zu machen. Ruth Pfau machen solche Rückschläge schwer zu schaffen. Gegenwärtig bekümmert sie besonders der wachsende Terrorismus in Pakistan, erzählt sie den Auszubildenden des Leipziger Schulzentrums. Eine Partei, die durch einen verheißungsvollen Start viele Erwartungen geweckt hatte, ist ins Terroristische abgeglitten. Nun sind Morde an der Tagesordnung in der Hauptstadt Karachi, allein aus dem Grund begangen, dass das Opfer einer bestimmten ethnischen Gruppe angehört. „Unter diesen Umständen macht es das Herz schwer, das Team jeden Morgen in alle Himmelsrichtungen losziehen zu sehen“, sagt sie den deutschen Jugendlichen.
„Wie halten Sie das bloß alles aus? Und wie motivieren Sie sich, trotz mancher Misserfolge weiterzumachen?“, wollen die angehenden Altenpfleger, Sozialassistenten und pharmazeutisch-technischen Assistenten wissen. „Aufgeben ist bei mir nicht vorgesehen“, sagt Ruth Pfau den Auszubildenden, die sie gerne dafür gewinnen will, sie in Pakistan beim Aufbau eines Altenpflegedienstes zu unterstützen. Sie empfiehlt eine Weisheit aus dem Jesuitenorden, die ihr wichtig geworden ist: „Weitermachen ist unsinnig. Aufgeben ist noch unsinniger. Also machen wir weiter.“
Dass sie sich die gleichen Fragen stellt wie die Jugendlichen, wird in ihren Büchern deutlich. „Was zählt der Erfolg von gestern, wenn immer neues Leiden auf uns einströmt und Dunkelheit sich über alle vergangenen Erfolge zu legen droht?“, sinniert sie. Etwas Tröstliches hat es für die leidenschaftliche Ärztin dabei, sich selbst als Teil von etwas Größerem zu sehen: „Zu meinem Leben gehört zentral die Grenzerfahrung, dass unser Leben fragmentarisch ist. Wir oft säen wir nur und müssen vertrauen, dass das weggeworfene Samenkorn eine Erde findet, die es ihm erlaubt zu wachsen? Wie oft ernten wir und wissen nicht, wer in Tränen gesät hat.“ Die eigene Wahrnehmung darf dabei nie das Maß aller Dinge bleiben, ist Ruth Pfau wichtig: „Ich glaube nun einmal, dass das Prinzip des Lebens Liebe ist. Und Liebe ist immer Fülle, Reichtum. Meine unerschütterliche Überzeugung, trotz allem: Wenn wir das nicht entdecken können, liegt es daran, dass unsere Augen nicht richtig sehen. Dann müssen wir uns eben erneut aufmachen, um jenen Ausblickpunkt zu erreichen, von dem aus sich der neue Horizont öffnet.“
Das, was sie im Tiefsten umtreibt und beschäftigt, verletzt und antreibt, mag sie nicht jedem Fragesteller anvertrauen. „Das ist zu unverständlich, so völlig verrückt, dass ich es kaum beschreiben kann. Wem kann ich das schon zumuten: zu sagen, dass ich dem, der Gott war und der in unser Leid eingetaucht ist, in die letzte unsinnige Unverständlichkeit, in das Grauen des Grauens, dass ich dem nachzufolgen versprochen habe, in einer raschen und jugendlichen Unbekümmertheit, in einem Griff nach den Sternen, und in einem Alter, in dem man noch nicht weiß, was man tut (sonst würde man es nicht tun). Und dass ich mein Ja nicht zurücknehmen kann – warum eigentlich nicht? Weil ich es nicht zurücknehmen will.“
Dorothee Wanzek
Wir danken „Vivat! Christliche Bücher & Geschenke“ und der Autorin Frau Wanzek für die Erlaubnis, diesen Beitrag über Dr. Ruth Pfau aus dem Vivat!-Kundenmagazin „Glaube verbindet.“ auf unserer Website veröffentlichen zu dürfen. © www.vivat.de/magazin
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Dr. Ruth Pfau († 2017), Lepraärztin und Ordensfrau, kannte Pakistan wie kaum ein anderer Europäer.
Sie hatte dort seit mehr als fünfzig Jahren nach Kranken gesucht und erfolgreich Hilfe geleistet.
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